VERERBUNG
ERFORSCHEN

FORTPFLANZUNG
STEUERN

Wie funktioniert Vererbung beim Menschen? Wie wichtig sind Gene, wie wichtig Umwelteinflüsse für die Entwicklung des Menschen? Das waren die zentralen Forschungsfragen am Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik. Das Institut nahm 1927 seinen Betrieb auf. Es gehörte zur Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft (heute: Max-Planck-Gesellschaft). Anfangs bestand das Institut aus drei Abteilungen, aus denen sich auch sein Name zusammensetzte: „Anthropologie“, „menschliche Erblehre“ und „Eugenik“.

Eugenische Ideen fanden in der Weimarer Republik eine breite Unterstützung – von Sozialdemokrat*innen bis zu Rechtsnationalist*innen: Menschen, denen eine erblich bedingte Krankheit oder eine Behinderung attestiert wurde, sollten keine Kinder bekommen. So wollte der Staat Ausgaben für Soziales und Gesundheit verringern. Das Institut stellte sich von Anfang an in den Dienst einer eugenischen Politik – und profitierte von ihr. Im Nationalsozialismus beteiligten sich Institutsmitarbeiter*innen an der „Auslese“ und Vernichtung von Menschen.

„Anthropologie“

Die Anthropologie (altgriechisch „ánthrōpos“ – Mensch, „logía“ – Lehre) beschäftigte sich mit der Abstammung und Entwicklung des Menschen. Über Messungen von Körperteilen konstruierte die Anthropologie „Rassen“. Als Leiter der Anthropologie-Abteilung war Eugen Fischer das, was er „bloßes Schädel-Messen“ nannte, nicht genug. Deshalb verband er diese Praxis mit Forschungen zur Genetik. Das nannte er „Anthropo-Biologie“. Trotzdem hielt er an der Idee fest, Menschen in ungleichwertige „Rassen“ einzuteilen.

Zeichnung von zwei Personen. Sie sind einmal im Profil, einmal von oben dargestellt. An ihren Köpfen sind je ein horizontaler und ein vertikaler Strich eingezeichnet, die zeigen, dass der Kopf der linken Person länger ist als der Kopf der rechten Person.
Schaubild aus: Erwin Baur / Eugen Fischer / Fritz Lenz, „Menschliche Erblichkeitslehre“, 1923 Wellcome Collection, CC BY-NC 4.0

Mit dieser Illustration zu „Lang-“ und „Rundschädeln“ wollte Eugen Fischer seine These der angeblichen „erblichen Rassenunterschiede“ stützen. Gleichzeitig berücksichtigte er neuere Forschungen, wonach auch Umweltfaktoren wie die Ernährung die Schädelform beeinflussten.

Foto von Eugen Fischer, der an einem Tisch sitzt. Mit einem Lineal vor sich vermisst er Rattenkopfskelette. Sieben davon liegen auf dem Tisch bereit, etwa 25 andere sind in Schachteln einsortiert.
Eugen Fischer bei der Ausmessung von Rattenkopfskeletten, 1932 Archiv der Max-Planck-Gesellschaft, Berlin-Dahlem, Abt. III., Rep. 94, Dep. Eugen Fischer, Bild I/5

Das Foto zeigt Eugen Fischer, wie er an seinem Schreibtisch die Schädel von Ratten vermisst. Anfang der 1930er-Jahre kam Fischer anhand der Tierexperimente zu dem Schluss, dass vitaminreiche Nahrung zu längeren Schädeln führt.

„Menschliche Erblehre“

Die Abteilung für menschliche Erblehre unter Otmar von Verschuer wollte humangenetische Grundlagenforschung mit modernsten Methoden betreiben. Dabei sollten die im Innern des Körpers wirkenden Mechanismen der Vererbung über äußere Beobachtungen entschlüsselt werden. Im Mittelpunkt standen bis Mitte der 1930er-Jahre vergleichende Untersuchungen an Zwillingen.

Foto von Otmar von Verschuer und einem minderjährigen Zwillingspaar. Die Zwillinge sehen sich sehr ähnlich und sind gleich angezogen. Verschuer hält eine Tafel mit Nahaufnahmen von sechzehn Augen, die er mit den Augen der Zwillinge abgleicht.
Untersuchung eines Zwillingspaares durch Otmar von Verschuer, 1928 Archiv der Max-Planck-Gesellschaft, Berlin-Dahlem, Abt. VI., Rep. 1, Verschuer, Otmar von II/4

Diese Aufnahme einer Untersuchung von Zwillingen entstand 1928, kurz nach der Eröffnung des Instituts. Otmar von Verschuer vergleicht die Augen der Kinder mithilfe einer „Augenfarb-Tafel“. Die Zwillingsmethode galt damals als Durchbruch in der Vererbungsforschung. Die Namen der Kinder sind nicht bekannt.

Bildkollage aus drei Bildern in der Zeitschrift „Illustrierter Beobachter“. Sie flankiert ein Artikel mit dem Titel „Das Rassenbild im Stammbaum“. Auf den Bildern sind Mitarbeitende des Instituts bei der Arbeit mit Lupen und Fotos zu sehen.
Bildkollage im „Illustrierten Beobachter“, 1933 Zentral- und Landesbibliothek Berlin

„Die Erblehre […] dringt auch in das Innerste des Körpers vor“, heißt es in dem Text von 1933. Im Nationalsozialismus präsentierte sich die „Erblehre“ als innovative Wissenschaft im Dienste einer Politik der „Auslese“. Die Bildkollage zeigt, wie Wissenschaftler Röntgenbilder, Handabdrücke und Fotos analysieren. Die Untersuchten wurden teils als „erbkrank“ oder „minderwertig“ stigmatisiert.

„Eugenik“

Eugenik (altgriechisch „eũ“ – gut, „génos“ – Geschlecht) ist die Lehre der vermeintlich „guten Abstammung“. Die Abteilung für Eugenik am Institut betrieb kaum eigene Forschung. Deren Leiter Hermann Muckermann warb aber öffentlichkeitswirksam für den eugenischen Gedanken: Menschen, die er als „gesund“ und „leistungsfähig“ einstufte und denen er deshalb „gute Erbanlagen“ zuschrieb, sollten mehr Kinder bekommen. Von ihm als „erbkrank“ stigmatisierte Menschen sollten sich hingegen sterilisieren lassen.

Diagramm aus zwei Grafen. Aus der Darstellung geht hervor, dass Professoren im Durchschnitt deutlich weniger Kinder haben als angehörige der Landbevölkerung.
Aus: Hermann Muckermann, „Differenzierte Fortpflanzung“, 1930 Universitätsbibliothek der Freien Universität Berlin

Mit diesem Schaubild illustrierte Muckermann 1930 einen aus seiner Sicht bedenklichen Trend: Professoren bekämen weniger Kinder als die durchschnittliche „Landbevölkerung“. Der Eugeniker sah in Hochschullehrern eine geistige Elite mit wertvollen Erbanlagen, die sich nicht ausreichend fortpflanzte.

Zeichnung, die eine Gruppe von Menschen zeigt, welche auf eine Tür zustürmt. Die Tür trägt die Aufschrift „Eheberatung Hier“.
Karikatur zum Andrang vor der „Eheberatung“, 1934 Archiv der Max-Planck-Gesellschaft, Berlin-Dahlem, NL Verschuer IAbt. II., Rep. 86A, Nr. 86

Vor der Tür der „Eheberatung“ herrscht Andrang: Diese Karikatur erhielt Otmar von Verschuer zu Weihnachten 1934 von der Belegschaft der von ihm geleiteten Poliklinik für Erb- und Rassenpflege in Charlottenburg. Dort wurde Paaren, bei denen „Erbkrankheiten“ vermutet wurden, von der Heirat abgeraten.

Hermann Muckermann

Der Biologe und katholische Priester Hermann Muckermann (1877–1962) trat als populärer Vortragsreisender und Autor früh für eine eugenische Politik ein. 1927 wurde Muckermann Abteilungsleiter für Eugenik. 1933 musste er das Institut verlassen: Der Katholik galt den Nationalsozialisten als politisch unzuverlässig.

Nach dem Zweiten Weltkrieg führte Muckermann bis 1961 ein kleines Institut für Anthropologie, das lange Zeit von der Max-Planck-Gesellschaft finanziert wurde. Es hatte seinen Sitz in der früheren Direktorenvilla des Instituts. Muckermann, der an der Technischen Universität Berlin Professor war und auch an der Freien Universität lehrte, warb weiterhin dafür, dass angebliche „Erbkranke“ freiwillig auf Kinder verzichten sollten.

Autogrammkarte, die Hermann Muckermann im Porträt zeigt. Er trägt ein schwarzes Jackett, ein weißes Hemd und eine schwarze Fliege. Am unteren Bildrand ist die Karte von Muckermann signiert.
Autogrammkarte von Hermann Muckermann, 1920er-Jahre Archiv der Max-Planck-Gesellschaft, Berlin-Dahlem, Abt. VI., Rep. 1, Muckermann, Hermann
Foto einer Gruppe von Menschen mit Plakaten und Luftballons. Auf einem der Plakate steht: „Menschen mit Down-Syndrom sollen nicht aussortiert werden!“

Demonstration mit dem Slogan „Inklusion statt Selektion“, 2019

Matthias Heinzmann

Aktivist*innen demonstrierten 2019 für „Inklusion statt Selektion“. Sie lehnten eine Kostenübernahme für vorgeburtliche Bluttests durch die Krankenkassen ab. Behindertenverbände warnen, dass dadurch Abtreibungen befördert und kaum noch Kinder mit einer Trisomie geboren werden. Personen, die sich bewusst für ein behindertes Kind entscheiden, müssten sich zunehmend rechtfertigen. Hat sich also die „freiwillige Eugenik“ durchgesetzt?

Kollage aus Zeichnungen und Zitaten, die genetische Konzepte erklären. Textfragmente sind unter anderem: „Es gibt keine genetische Basis für menschliche Rassen!“, und: „Das Konzept der Rasse ist das Ergebnis von Rassismus und nicht dessen Voraussetzung“.

Grafik zu einem Vortrag über die „Jenaer Erklärung“, 2021

sandruschka/Salea Rackwitz, CC BY-ND 4.0

Mit dieser Grafik erläuterte Johannes Krause in einem Vortrag seine Kritik an der Idee von „Menschenrassen“. Der Genetiker hatte mit anderen Wissenschaftlern 2019 die „Jenaer Erklärung“ veröffentlicht. Sie kritisierten das Konzept der „Menschenrassen“ als wertlos und gefährlich. Welche der genetischen Unterschiede zwischen Menschen benutzt werden, um „Rassen“ zu begründen, sei willkürlich. „Rassen“ seien ein „reines Konstrukt des menschlichen Geistes“.

Die Direktorenvilla
Die DirektorenvillaFritz Brunier Fotografie

Ein Kaiser-Wilhelm-Institut war ganz auf die Persönlichkeit und das Forschungsprogramm des Direktors ausgerichtet. Der Direktor erhielt deshalb neben einer großzügigen Ausstattung am Institut auch eine repräsentative Villa mit Garten, in der er Gäste aus Wissenschaft und Politik empfing. Zunächst bewohnte Gründungsdirektor Eugen Fischer mit seiner Familie das Haus, ab 1942 sein Nachfolger Otmar von Verschuer. Heute beherbergt das Gebäude Büros der Freien Universität.

Schwarz-Weiß-Foto. Perspektive von der Ihnestraße auf das Hauptgebäude des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik.
Das Hauptgebäude des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik, nach 1936 Archiv der Max-Planck-Gesellschaft, Berlin-Dahlem, Abt. VI. Rep. 1, Nr. KWI-Anthrop I/4b
Foto von drei Personen in einem Untersuchungszimmer. Eine Person in Kittel oder Kleid fotografiert eine sitzende Person im Profil. Daneben steht das Zwillingsgeschwister der fotografierten Person.
Ein Zwillingspaar bei Fotoaufnahmen im Institut, um 1930 ullstein bild
Eugen Fischer bei einer Rede an der Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin, 1933
Eugen Fischer bei einer Rede an der Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin, 1933 Süddeutsche Zeitung Photo/Scherl
Schwarz-Weiß-Foto. Perspektive von der Ihnestraße auf das Hauptgebäude des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik um 1933/34. Auf einer Fahnenstange weht die Hakenkreuzflagge.
Das Hauptgebäude des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik mit Hakenkreuzflagge, um 1933/34 Archiv der Max-Planck-Gesellschaft, Berlin-Dahlem, Abt. VI. Rep. 1, Nr. KWI-Anthrop I/4a
Das zweite Bild ist das Foto einer Frau mit dunkler Hautfarbe, der Doktorandin Irawati Karvé. Sie steht neben einem Tisch mit einer Reihe von Totenköpfen.
Irawati Karvé mit menschlichen Schädeln im „Auspackraum“ des Instituts, ohne Datum Privatarchiv Irawati Karvé/Urmilla Deshpande

DachgeschossEntmenschlichung