„Die Schädel wurden sorgfältig aufbewahrt und wiesen offenbar keine Spuren von Gewalt auf. Aber was sind Spuren von Gewalt? Wurde den Menschen etwa keine Gewalt angetan, als sie in Konzentrationslager gebracht wurden? Als ihre Köpfe von den Körpern abgetrennt wurden? Als an ihnen geforscht wurde?“
Memory Biwa, Historikerin
Im Dachgeschoss des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik wurden die anatomisch-anthropologischen Sammlungen verwahrt. In Schränken fanden sich mehrere Tausend Schädel und Skelettteile von Menschen und Tieren. Im Keller wurden zudem Organe in Flüssigkeiten konserviert.
Die Wissenschaftler*innen nutzten für ihre Sammlungstätigkeit Ungleichheit und Gewalt aus. Aus Kliniken beschafften sie sich Organe von Menschen, für deren Bestattung niemand zahlen konnte. In Kolonien eigneten sie sich ohne die Zustimmung von Angehörigen die Gebeine von Menschen an. In nationalsozialistischen Lagern gelangten sie an Körperteile von Ermordeten.
Zu den Gebeinen, die im Dachgeschoss des Instituts verwahrt wurden, gehören auch jene von Uikabis und ihrem Kind Nabnas. Das Wenige, das wir von ihnen wissen, hat mit Gewalt zu tun. Uikabis und Nabnas arbeiteten 1906 auf einer Farm im Osten Namibias, damals als „Deutsch-Südwestafrika“ kolonisiert. Im Oktober flohen sie von der Farm. Der deutsche Farmbesitzer Paul Wiehager ließ sie aufgreifen und anbinden. Sie erhielten weder Nahrung noch Wasser. Nabnas verdurstete, Uikabis wurde am nächsten Tag erhängt. Es kam zum Gerichtsprozess gegen den Farmer, und Uikabis’ und Nabnas’ Leichen wurden als Beweisstücke verwahrt.
Nach dem Prozess eignete sich Felix von Luschan, Professor für Anthropologie an der Berliner Universität, die Gebeine an. 1927 ging eine seiner Sammlungen an das Institut in der Ihnestraße 22. Darunter waren auch die Überreste von Uikabis und Nabnas. Nach vielen Ortswechseln wurden sie im März 2014 nach Namibia zurückgeführt. Ein Abbild von Uikabis und Nabnas existiert nicht.
EPA/Soeren Stache
In zwei der insgesamt 21 Kartons befinden sich die sterblichen Überreste von Uikabis und Nabnas. Hier werden sie für ihre Rückführung nach Namibia vorbereitet. Zu diesem Zeitpunkt befanden sie sich in der Charité Berlin. Nach wiederholten Forderungen aus Namibia erfolgte im März 2014 die Rückgabe.
Von 1928 bis 1935 betreute Hans Weinert (1887– 1967) die anthropologische Sammlung des Instituts. Er forschte zur evolutionären Entwicklung des Menschen. Zwar ging er von einem gemeinsamen Ursprung aller Menschen aus. Zugleich war er aber davon überzeugt, dass Weiße Menschen höherwertiger seien als andere.
Ab 1935 lehrte Weinert als Professor für Anthropologie an der Universität Kiel. Nebenher fertigte er sogenannte „rassenbiologische Gutachten“ an. Viele fielen zugunsten der Untersuchten aus und retteten sie vor einer Verfolgung als Jüdinnen*Juden. Dafür verlangte Weinert allerdings horrende Honorare. Nach dem Krieg beschuldigten Frauen Weinert der sexuellen Übergriffe. Weinert blieb trotzdem bis zu seiner Emeritierung 1955 Professor.
Im dunklen Anzug posiert Hans Weinert umringt von jungen Wissenschaftler*innen des Instituts. Auf dem Tisch und in den Händen der Doktorandin Irawati Karvé finden sich Präparate aus der Sammlung des Instituts.
In der Sammlung existierten Uikabis und Nabnas lediglich als Objekte mit Sammlungsnummern: als „S 1322“ und „S 1323“. Hans Weinert forschte bereits in den 1920er-Jahren an ihnen. Er wollte klären, wie Mensch und Affe evolutionär zusammenhängen, und vermaß dafür die Stirnhöhlen von Schädeln.
Eine koloniale Sammlung
Die größte Sammlung am Institut umfasste Gebeine von etwa 5.000 Menschen aller Kontinente. Direktor Eugen Fischer übernahm sie von Felix von Luschan, seinem Vorgänger am Lehrstuhl für Anthropologie der Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin (heute Humboldt-Universität). Luschan hatte sich primär in der deutschen Kolonialzeit Gebeine angeeignet. In Dahlem wurde die Sammlung stetig erweitert und für Forschungen genutzt.
Menschheit abbilden
Eugen Fischer plante Anfang der 1940er-Jahre eine „Erbbiologische Centralsammlung“. Für diese beschaffte er sich vor allem Embryonen von Tieren und Menschen. Anhand der Embryonen wollten Wissenschaftler*innen klären, wie sich bestimmte Merkmale und Krankheiten herausbilden. Die Sammlung sollte die gesamte Menschheit ans Institut holen und nach humangenetischen Gesichtspunkten ordnen.
Sammeln in nationalsozialistischen Konzentrationslagern
Ab Mitte 1943 durfte Wolfgang Abel im Konzentrationslager Sachsenhausen bei Berlin an sowjetischen Kriegsgefangenen forschen. Dies ist einer von vielen Hinweisen darauf, dass Angehörige des Instituts wahrscheinlich auch Körperteile von in nationalsozialistischen Lagern Ermordeten sammelten. Abel plante ab 1942 eine „Lehrsammlung für Rassengeschichte Europas und der Erde“ an der Berliner Universität.
Entmenschlichte Körper
Am Rande des früheren Institutsgeländes wurden ab 2014 Reste menschlicher Knochen geborgen. Mit großer Sicherheit stammen sie aus den anthropologischen Sammlungen, die hier im Dachgeschoss gelagert wurden. Die Namen und Geschichten derjenigen, zu denen sie gehören, kennen wir nicht.
Was bedeutet es, dass hier und an anderen Orten menschliche Überreste gefunden wurden?
Video-Kommentar von
Israel Kaunatjike, Vertreter der OvaHerero, Berlin
02:41 Min.
Was wissen wir über die Knochen, die auf dem Gelände geborgen wurden?
Video-Kommentar von
Prof. Dr. Susan Pollock, ehemals Freie Universität Berlin
2:43 Min.
Was war die „S-Sammlung“ – und was geschieht heute mit ihr?
Video-Kommentar von
Dr. Bernhard Heeb, Stiftung Preußischer Kulturbesitz
2:25 Min.