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MENSCHEN
SELEKTIEREN

Institutsmitarbeiter*innen selektierten die Bevölkerung: Wer für „erbkrank“ befunden wurde, sollte keine Kinder bekommen dürfen. Bereits 1932 entwarf Hermann Muckermann federführend ein Sterilisationsgesetz. Die Nationalsozialisten setzten es in verschärfter Form um: Ihr „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ sah auch Sterilisationen unter Zwang vor. So wurden in Krankenhäusern bis 1945 rund 400.000 Menschen sterilisiert – vor allem solche, die als sozial auffällig abgewertet wurden.

Über Sterilisationen wurde vor sogenannten „Erbgesundheitsgerichten“ entschieden. Eugen Fischer und Otmar von Verschuer waren als ärztliche Beisitzer beteiligt. Für die Schreibarbeiten war ein eigenes Büro reserviert. Das Institut bereitete auch die Sterilisation einiger Hundert afrikanisch- und asiatisch-deutscher Jugendlicher vor. Diese erfolgte nicht nach dem NS-Gesetz und wurde geheim gehalten.

Zwei Auszüge. Der erste ist der Entwurf des Sterilisationsgesetzes von 1932. Dieser sah die Möglichkeit freiwilliger Sterilisation vor. Im Zweiten Auszug, dem „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ von 1933, fehlt die Bedingung der Freiwilligkeit.
Auszüge aus dem Entwurf des Sterilisationsgesetzes von 1932 und dem „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ von 1933 Universitätsbibliothek der Freien Universität Berlin

Das in der Weimarer Republik entworfene Sterilisationsgesetz sollte freiwillige Sterilisationen ermöglichen, ohne dass Ärzt*innen Strafe fürchten mussten. Das NS-Gesetz hingegen ermöglichte Sterilisationen gegen den Willen der Betroffenen. Eine Indikationsliste bestimmte, wer keine Kinder bekommen sollte. Die Liste ging wesentlich auf den Institutsmitarbeiter Hermann Muckermann zurück.

Zwei Fotos der sogenannten „Poliklinik für Erb- und Rassenpflege“. Das erste ist eine Außenaufnahme eines eingeschossigen Gebäudes mit Wänden aus hellem Holz.
Das zweite Foto ist die Innenansicht eines hell gestrichenen Behandlungszimmers.
Außenansicht und Behandlungszimmer der Poliklinik für Erb- und Rassenpflege, 1934 Archiv der Max-Planck-Gesellschaft, Berlin-Dahlem, Abt. III., Rep. 86A, 86 (Album), NL Verschuer, Bild III/11_1/11_4

Auf dem Gelände des Kaiserin-Auguste-Viktoria-Hauses in Berlin-Charlottenburg eröffnete im Oktober 1934 die Poliklinik für Erb- und Rassenpflege. Otmar von Verschuer, Leiter der Abteilung für menschliche Erblehre, führte sie bis 1935. Die Klinik war damit eine Außenstelle des Instituts. Mitarbeitende der Poliklinik begutachteten Personen, deren Sterilisation beantragt worden war.

Agnes W.

Agnes W. (1894–unbekannt) wuchs in Berlin auf – zunächst in Pflegestellen, dann bei ihrer Mutter. Diese arbeitete als Schneiderin, Agnes half ihr nachts. In der vierten Klasse musste Agnes die Schule verlassen, weil sie dem Unterricht nicht folgen konnte. Sie arbeitete fortan in Fabriken. Mit 22 Jahren heiratete sie, ihr Mann starb bereits zwei Jahre später. Agnes W. hatte drei Kinder, ein weiteres war kurz nach der Geburt gestorben. 1934 heiratete sie erneut.

1935 beantragte der Kreisarzt, Agnes W. zu sterilisieren. Er diagnostizierte „angeborenen Schwachsinn“. Daraufhin ordnete das Erbgesundheitsgericht Berlin ihre Unfruchtbarmachung an. Agnes W. legte zweimal Beschwerde ein. Das Erbgesundheitsobergericht wies die Beschwerden ab. Unterzeichnet hatte die Ablehnung Institutsdirektor Eugen Fischer, der als ärztlicher Beisitzer dem Gericht angehörte. Im November 1936 nahm ein Bezirksarzt die Zwangssterilisation der 42-Jährigen vor. Ein Bild von ihr ist nicht überliefert.

Widerspruch von Agnes W. gegen den Beschluss ihrer Sterilisation, 1935

Landesarchiv Berlin

Gegen die Diagnose „angeborener Schwachsinn“ wehrte sich Agnes W.: „Wenn das der Fall wäre, hätte man mir ja schon vor Jahren wohl das Erziehungsrecht meiner Kinder […] entzogen, […] für 2 Jungens ohne jegliche Beihilfe eines Erziehers ist es mir gelungen, […] als ehrliche[r], arbeitssame[r] und nie vorbestrafte[r] Mensch[ ] durchs Leben zu gehen.“

Rassistische Zwangssterilisierungen

Das Bild zeigt die Schwestern Erna (oben links) und Hildegard (oben rechts) sowie Irmgard (unten links) und Susanne (unten rechts). Im Juli 1933 wurden sie mit 35 weiteren Kindern vom Institutsmitarbeiter Wolfgang Abel im Auftrag des Innenministeriums vermessen und fotografiert. Die Kinder hatten deutsche Mütter und afrikanische bzw. asiatische Väter. Die Väter gehörten den französischen und US-Truppen an, die nach dem Ersten Weltkrieg entlang des Rheins stationiert waren. Über die Kinder urteilte Abel, sie seien gesundheitlich und geistig schwach. Seine Untersuchungen lieferten eine Rechtfertigung, 1937 mindestens 400 Kinder in einer geheimen Aktion zu sterilisieren. Erna, Hildegard und Susanne wurden nachweislich sterilisiert, Irmgard sehr wahrscheinlich auch.

Acht Schwarz-Weiß-Fotos mit Köpfen von Kindern. Die vier Kinder sind jeweils von vorne und von der Seite fotografiert.

Aus: Wolfgang Abel, „Über Europäer-Marokkaner- und Europäer-Annamiten-Kreuzungen“, 1937

Staatsbibliothek zu Berlin

Auszug aus der Ablehnung von Erna K.s Antrag auf Entschädigung, 1955

Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden

Erna K. (1922–unbekannt), eines der von Abel fotografierten Kinder, beantragte später eine Entschädigung für ihre Sterilisation. Im Jahr 1955 teilte ihr das Entschädigungsamt in Wiesbaden mit, dass ihr Antrag abgelehnt wird. Es sei nicht erwiesen, dass sie „ausschließlich wegen ihrer Rasse sterilisiert worden“ sei. Erna K. hatte fast sechs Jahre auf die Antwort warten müssen.

1. Die Opfer der Sterilisationsaktion von 1937 waren in der Bundesrepublik damit konfrontiert, dass die Entschädigungsämter von der geheim gehaltenen Maßnahme nichts wussten. Auch waren Personen afrikanischer und asiatischer Herkunft nicht als Angehörige einer von den Nationalsozialisten verfolgten Gruppe anerkannt. Die Behörden leugneten, dass sie aus rassistischen Gründen sterilisiert worden waren.

2. Erna K. hätte auch keine Entschädigung erhalten, wäre sie nach dem „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ sterilisiert worden: In der Bundesrepublik wurde das Gesetz jahrzehntelang nicht als Unrecht anerkannt. Erst ab 1980 konnten Betroffene Einmalzahlungen erhalten. 1998 wurden die Sterilisationsbeschlüsse offiziell aufgehoben. In der DDR galten Sterilisationsopfer nicht als „Verfolgte des Naziregimes“.

Josef Kaiser

Josef Kaiser wurde im September 1921 als Kind der ledigen 18-jährigen Deutschen Maria Kaiser in Speyer geboren. Sein Vater war René José de Capelas, madagassischer Offizier der französischen Armee. Josef, seine Mutter und seine jüngere Schwester Susanne wohnten zusammen mit seinen Großeltern in Speyer. Als Kind arbeitete Josef beim Zirkus. 1935 schloss er die Schule ab. Eine Berufsausbildung wurde ihm durch die Nürnberger Gesetze verwehrt.

1937 stimmte Maria Kaiser unter Druck des Gesundheitsamts der Sterilisation ihrer Kinder zu. Susanne wurde im Juni 1937 sterilisiert. Josef floh mehrmals. Schließlich wurde er von der Gestapo ergriffen und am gleichen Tag im Städtischen Krankenhaus Ludwigshafen sterilisiert.

1943 musste Josef Kaiser in der nationalsozialistischen Bautruppe „Organisation Todt“ arbeiten, später kam er in britische Gefangenschaft. 1945 heiratete er Herta Grimm. Sie setzt sich bis heute dafür ein, dass das ihm widerfahrene Unrecht anerkannt wird. 1991 starb Josef Kaiser.

Schwarz-Weiß-Foto von einem jungen Mann mit dunkler Haut. Er trägt einen Anzug und steht auf einer Wiese vor einem Zaun.

Josef Kaiser, um 1939

Privatarchiv Herta Kaiser/Michael Lauter

Mitteilung des Gesundheitsamts Speyer über den Aufenthaltsort von Josef Kaiser, 1937

Landesarchiv Speyer

Die Behörden unternahmen große Anstrengungen, um die zur Sterilisation bestimmten afrikanisch- und asiatisch-deutschen Kinder ausfindig zu machen. Josef Kaiser war geflohen. Er wurde schließlich bei einem Besuch zu Hause festgenommen.

Luzie und Cäcilie Borinski

Luzie und Cäcilie Borinski wurden 1920 und 1922 in Koblenz geboren. Sie wuchsen mit sechs weiteren Geschwistern bei ihrer Mutter Margareta auf. An ihren Vater Prodencio Dole Mendiola hatten sie keine Erinnerung. Er kam aus den Philippinen und war Soldat der US-Truppen, die nach dem Ersten Weltkrieg in Koblenz stationiert waren. Luzies und Cäcilies Geschwister hatten andere Väter.

Als Kinder asiatischer Herkunft wurden Luzie und Cäcilie 1937 gegen ihren Willen sterilisiert. Luzie wollte ihren Partner Heinrich Bell heiraten. Die nationalsozialistischen Behörden versagten ihr jedoch mehrfach die dafür notwendige Bescheinigung der „Ehetauglichkeit“. Erst kurz nach dem Krieg heirateten sie und Cäcilie ihre jeweiligen Partner. Die Schwestern hatten zeitlebens panische Angst vor Ärzt*innen.

Luzie und Cäcilie waren für ihre Nichten und Neffen wichtige Bezugspersonen. Das erste Kind ihres jüngeren Bruders zog Luzie als eigenen Sohn auf, später nahm sie auch dessen Sohn zu sich. Cäcilie verstarb 1993, Luzie 2002.

Foto der Schwestern Cäcilie, Elfriede und Luzie Borinski von 1955. Elfriede Borinski hat helle Haut, dunkle Haare und trägt ein dunkles Kleid. Cäcilie und Luzie Borinski haben einen dunklen Teint, lächeln in die Kamera und halten Luftballons in den Händen.

Die Schwestern Cäcilie, Elfriede und Luzie Borinski (von links), 1955

Privatarchiv Gisela Johannsen

Protokoll des Beschlusses zur Sterilisation von Cäcilie Borinski, 1937

Bundesarchiv, Berlin

Im Mai 1936 entschied eine Kommission in Koblenz über die Sterilisation von Cäcilie Borinski – in ihrer Abwesenheit. Cäcilies Mutter stimmte zu, sehr wahrscheinlich unter Druck. Mitglied der Kommission war auch der Mitarbeiter des Reichsgesundheitsamtes Herbert Göllner, der bei Institutsdirektor Fischer promoviert hatte. Cäcilie wurde im Juni 1937 in der Universitätsfrauenklinik Bonn sterilisiert.

War nach dem Zweiten Weltkrieg alles vergangen?

Video-Kommentar von

Tahir Della, Initiative Schwarze Menschen in Deutschland

Margret Hamm, AG Bund der „Euthanasie“-Geschädigten und Zwangssterilisierten

3:28 Min

Schwarz-Weiß-Foto einer kleinen Gruppe. Vorne ist Wolfgang Abel zu sehen, ein Weißer Mensch in schwarzem Anzug und Krawatte. Hinter ihm stehen zwei Personen mit dunkler Haut in Häftlingskleidung.
Wolfgang Abel bei der Untersuchung Schwarzer französischer Kriegsgefangener, nach 1940 Archiv der Max-Planck-Gesellschaft, Berlin-Dahlem, Abt. VI., Rep. 1, KWI-Anthrop II/14

Wolfgang Abel

Der Mediziner Wolfgang Abel (1905–1997) arbeitete nach seiner Promotion ab 1931 am Institut. Ab 1940 leitete er die Abteilung für Rassenkunde. 1943 wurde er zudem Professor für Rassenbiologie an der Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin (heute Humboldt-Universität). Abel forschte unter anderem zu der Vererbung von Kopf- und Gesichtsmerkmalen des Menschen und suchte nach Markern für das, was Anthropolog*innen als „Rassen“ konstruierten. Abels Untersuchung von afrikanisch- und asiatisch-deutschen Kinder 1933 bereitete deren Zwangssterilisation vor.

Abel war Nationalsozialist und SS-Mitglied. Bereits als Student war er in Wien an antisemitischen Übergriffen beteiligt. Nach 1945 arbeitete Abel als Künstler in Österreich, wo er 1997 starb.

Inhaltsverzeichnis aus Walter Kirchners anthropologischer Untersuchung afrikanisch-deutscher Kinder, 1952 am Institut für natur- und geisteswissenschaftliche Anthropologie Berlin-Dahlem publiziert und teilweise in rassistischer Sprache verfasst.
Aus: Walter Kirchners anthropologische Untersuchung afrikanisch-deutscher Kinder, 1952 Universitätsbibliothek der Freien Universität Berlin

Wissenschaftler*innen beforschten auch nach 1945 afrikanisch-deutsche Kinder. Ihre „intellektuelle Leistungsfähigkeit“ würde gering bleiben, behauptete Walter Kirchner in der Doktorarbeit, die er 1952 an der Freien Universität Berlin vorlegte. Sein Doktorvater und Vorgesetzter war der frühere Institutsmitarbeiter Hermann Muckermann, der ab 1948 in der Ihnestraße 24 ein Nachfolge-Institut leitete.

Schwarz-Weiß-Foto. Perspektive von der Ihnestraße auf das Hauptgebäude des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik.
Das Hauptgebäude des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik, nach 1936 Archiv der Max-Planck-Gesellschaft, Berlin-Dahlem, Abt. VI. Rep. 1, Nr. KWI-Anthrop I/4b
Foto von drei Personen in einem Untersuchungszimmer. Eine Person in Kittel oder Kleid fotografiert eine sitzende Person im Profil. Daneben steht das Zwillingsgeschwister der fotografierten Person.
Ein Zwillingspaar bei Fotoaufnahmen im Institut, um 1930 ullstein bild
Eugen Fischer bei einer Rede an der Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin, 1933
Eugen Fischer bei einer Rede an der Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin, 1933 Süddeutsche Zeitung Photo/Scherl
Schwarz-Weiß-Foto. Perspektive von der Ihnestraße auf das Hauptgebäude des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik um 1933/34. Auf einer Fahnenstange weht die Hakenkreuzflagge.
Das Hauptgebäude des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik mit Hakenkreuzflagge, um 1933/34 Archiv der Max-Planck-Gesellschaft, Berlin-Dahlem, Abt. VI. Rep. 1, Nr. KWI-Anthrop I/4a
Das zweite Bild ist das Foto einer Frau mit dunkler Hautfarbe, der Doktorandin Irawati Karvé. Sie steht neben einem Tisch mit einer Reihe von Totenköpfen.
Irawati Karvé mit menschlichen Schädeln im „Auspackraum“ des Instituts, ohne Datum Privatarchiv Irawati Karvé/Urmilla Deshpande

DachgeschossEntmenschlichung