Institutsmitarbeiter*innen selektierten die Bevölkerung: Wer für „erbkrank“ befunden wurde, sollte keine Kinder bekommen dürfen. Bereits 1932 entwarf Hermann Muckermann federführend ein Sterilisationsgesetz. Die Nationalsozialisten setzten es in verschärfter Form um: Ihr „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ sah auch Sterilisationen unter Zwang vor. So wurden in Krankenhäusern bis 1945 rund 400.000 Menschen sterilisiert – vor allem solche, die als sozial auffällig abgewertet wurden.
Über Sterilisationen wurde vor sogenannten „Erbgesundheitsgerichten“ entschieden. Eugen Fischer und Otmar von Verschuer waren als ärztliche Beisitzer beteiligt. Für die Schreibarbeiten war ein eigenes Büro reserviert. Das Institut bereitete auch die Sterilisation einiger Hundert afrikanisch- und asiatisch-deutscher Jugendlicher vor. Diese erfolgte nicht nach dem NS-Gesetz und wurde geheim gehalten.
Das in der Weimarer Republik entworfene Sterilisationsgesetz sollte freiwillige Sterilisationen ermöglichen, ohne dass Ärzt*innen Strafe fürchten mussten. Das NS-Gesetz hingegen ermöglichte Sterilisationen gegen den Willen der Betroffenen. Eine Indikationsliste bestimmte, wer keine Kinder bekommen sollte. Die Liste ging wesentlich auf den Institutsmitarbeiter Hermann Muckermann zurück.
Auf dem Gelände des Kaiserin-Auguste-Viktoria-Hauses in Berlin-Charlottenburg eröffnete im Oktober 1934 die Poliklinik für Erb- und Rassenpflege. Otmar von Verschuer, Leiter der Abteilung für menschliche Erblehre, führte sie bis 1935. Die Klinik war damit eine Außenstelle des Instituts. Mitarbeitende der Poliklinik begutachteten Personen, deren Sterilisation beantragt worden war.
Agnes W. (1894–unbekannt) wuchs in Berlin auf – zunächst in Pflegestellen, dann bei ihrer Mutter. Diese arbeitete als Schneiderin, Agnes half ihr nachts. In der vierten Klasse musste Agnes die Schule verlassen, weil sie dem Unterricht nicht folgen konnte. Sie arbeitete fortan in Fabriken. Mit 22 Jahren heiratete sie, ihr Mann starb bereits zwei Jahre später. Agnes W. hatte drei Kinder, ein weiteres war kurz nach der Geburt gestorben. 1934 heiratete sie erneut.
1935 beantragte der Kreisarzt, Agnes W. zu sterilisieren. Er diagnostizierte „angeborenen Schwachsinn“. Daraufhin ordnete das Erbgesundheitsgericht Berlin ihre Unfruchtbarmachung an. Agnes W. legte zweimal Beschwerde ein. Das Erbgesundheitsobergericht wies die Beschwerden ab. Unterzeichnet hatte die Ablehnung Institutsdirektor Eugen Fischer, der als ärztlicher Beisitzer dem Gericht angehörte. Im November 1936 nahm ein Bezirksarzt die Zwangssterilisation der 42-Jährigen vor. Ein Bild von ihr ist nicht überliefert.
Landesarchiv Berlin
Gegen die Diagnose „angeborener Schwachsinn“ wehrte sich Agnes W.: „Wenn das der Fall wäre, hätte man mir ja schon vor Jahren wohl das Erziehungsrecht meiner Kinder […] entzogen, […] für 2 Jungens ohne jegliche Beihilfe eines Erziehers ist es mir gelungen, […] als ehrliche[r], arbeitssame[r] und nie vorbestrafte[r] Mensch[ ] durchs Leben zu gehen.“
Das Bild zeigt die Schwestern Erna (oben links) und Hildegard (oben rechts) sowie Irmgard (unten links) und Susanne (unten rechts). Im Juli 1933 wurden sie mit 35 weiteren Kindern vom Institutsmitarbeiter Wolfgang Abel im Auftrag des Innenministeriums vermessen und fotografiert. Die Kinder hatten deutsche Mütter und afrikanische bzw. asiatische Väter. Die Väter gehörten den französischen und US-Truppen an, die nach dem Ersten Weltkrieg entlang des Rheins stationiert waren. Über die Kinder urteilte Abel, sie seien gesundheitlich und geistig schwach. Seine Untersuchungen lieferten eine Rechtfertigung, 1937 mindestens 400 Kinder in einer geheimen Aktion zu sterilisieren. Erna, Hildegard und Susanne wurden nachweislich sterilisiert, Irmgard sehr wahrscheinlich auch.
Staatsbibliothek zu Berlin
Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden
Erna K. (1922–unbekannt), eines der von Abel fotografierten Kinder, beantragte später eine Entschädigung für ihre Sterilisation. Im Jahr 1955 teilte ihr das Entschädigungsamt in Wiesbaden mit, dass ihr Antrag abgelehnt wird. Es sei nicht erwiesen, dass sie „ausschließlich wegen ihrer Rasse sterilisiert worden“ sei. Erna K. hatte fast sechs Jahre auf die Antwort warten müssen.
1. Die Opfer der Sterilisationsaktion von 1937 waren in der Bundesrepublik damit konfrontiert, dass die Entschädigungsämter von der geheim gehaltenen Maßnahme nichts wussten. Auch waren Personen afrikanischer und asiatischer Herkunft nicht als Angehörige einer von den Nationalsozialisten verfolgten Gruppe anerkannt. Die Behörden leugneten, dass sie aus rassistischen Gründen sterilisiert worden waren.
2. Erna K. hätte auch keine Entschädigung erhalten, wäre sie nach dem „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ sterilisiert worden: In der Bundesrepublik wurde das Gesetz jahrzehntelang nicht als Unrecht anerkannt. Erst ab 1980 konnten Betroffene Einmalzahlungen erhalten. 1998 wurden die Sterilisationsbeschlüsse offiziell aufgehoben. In der DDR galten Sterilisationsopfer nicht als „Verfolgte des Naziregimes“.
Josef Kaiser wurde im September 1921 als Kind der ledigen 18-jährigen Deutschen Maria Kaiser in Speyer geboren. Sein Vater war René José de Capelas, madagassischer Offizier der französischen Armee. Josef, seine Mutter und seine jüngere Schwester Susanne wohnten zusammen mit seinen Großeltern in Speyer. Als Kind arbeitete Josef beim Zirkus. 1935 schloss er die Schule ab. Eine Berufsausbildung wurde ihm durch die Nürnberger Gesetze verwehrt.
1937 stimmte Maria Kaiser unter Druck des Gesundheitsamts der Sterilisation ihrer Kinder zu. Susanne wurde im Juni 1937 sterilisiert. Josef floh mehrmals. Schließlich wurde er von der Gestapo ergriffen und am gleichen Tag im Städtischen Krankenhaus Ludwigshafen sterilisiert.
1943 musste Josef Kaiser in der nationalsozialistischen Bautruppe „Organisation Todt“ arbeiten, später kam er in britische Gefangenschaft. 1945 heiratete er Herta Grimm. Sie setzt sich bis heute dafür ein, dass das ihm widerfahrene Unrecht anerkannt wird. 1991 starb Josef Kaiser.
Privatarchiv Herta Kaiser/Michael Lauter
Landesarchiv Speyer
Die Behörden unternahmen große Anstrengungen, um die zur Sterilisation bestimmten afrikanisch- und asiatisch-deutschen Kinder ausfindig zu machen. Josef Kaiser war geflohen. Er wurde schließlich bei einem Besuch zu Hause festgenommen.
Luzie und Cäcilie Borinski wurden 1920 und 1922 in Koblenz geboren. Sie wuchsen mit sechs weiteren Geschwistern bei ihrer Mutter Margareta auf. An ihren Vater Prodencio Dole Mendiola hatten sie keine Erinnerung. Er kam aus den Philippinen und war Soldat der US-Truppen, die nach dem Ersten Weltkrieg in Koblenz stationiert waren. Luzies und Cäcilies Geschwister hatten andere Väter.
Als Kinder asiatischer Herkunft wurden Luzie und Cäcilie 1937 gegen ihren Willen sterilisiert. Luzie wollte ihren Partner Heinrich Bell heiraten. Die nationalsozialistischen Behörden versagten ihr jedoch mehrfach die dafür notwendige Bescheinigung der „Ehetauglichkeit“. Erst kurz nach dem Krieg heirateten sie und Cäcilie ihre jeweiligen Partner. Die Schwestern hatten zeitlebens panische Angst vor Ärzt*innen.
Luzie und Cäcilie waren für ihre Nichten und Neffen wichtige Bezugspersonen. Das erste Kind ihres jüngeren Bruders zog Luzie als eigenen Sohn auf, später nahm sie auch dessen Sohn zu sich. Cäcilie verstarb 1993, Luzie 2002.
Privatarchiv Gisela Johannsen
Bundesarchiv, Berlin
Im Mai 1936 entschied eine Kommission in Koblenz über die Sterilisation von Cäcilie Borinski – in ihrer Abwesenheit. Cäcilies Mutter stimmte zu, sehr wahrscheinlich unter Druck. Mitglied der Kommission war auch der Mitarbeiter des Reichsgesundheitsamtes Herbert Göllner, der bei Institutsdirektor Fischer promoviert hatte. Cäcilie wurde im Juni 1937 in der Universitätsfrauenklinik Bonn sterilisiert.
War nach dem Zweiten Weltkrieg alles vergangen?
Video-Kommentar von
Tahir Della, Initiative Schwarze Menschen in Deutschland
Margret Hamm, AG Bund der „Euthanasie“-Geschädigten und Zwangssterilisierten
3:28 Min
Der Mediziner Wolfgang Abel (1905–1997) arbeitete nach seiner Promotion ab 1931 am Institut. Ab 1940 leitete er die Abteilung für Rassenkunde. 1943 wurde er zudem Professor für Rassenbiologie an der Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin (heute Humboldt-Universität). Abel forschte unter anderem zu der Vererbung von Kopf- und Gesichtsmerkmalen des Menschen und suchte nach Markern für das, was Anthropolog*innen als „Rassen“ konstruierten. Abels Untersuchung von afrikanisch- und asiatisch-deutschen Kinder 1933 bereitete deren Zwangssterilisation vor.
Abel war Nationalsozialist und SS-Mitglied. Bereits als Student war er in Wien an antisemitischen Übergriffen beteiligt. Nach 1945 arbeitete Abel als Künstler in Österreich, wo er 1997 starb.
Wissenschaftler*innen beforschten auch nach 1945 afrikanisch-deutsche Kinder. Ihre „intellektuelle Leistungsfähigkeit“ würde gering bleiben, behauptete Walter Kirchner in der Doktorarbeit, die er 1952 an der Freien Universität Berlin vorlegte. Sein Doktorvater und Vorgesetzter war der frühere Institutsmitarbeiter Hermann Muckermann, der ab 1948 in der Ihnestraße 24 ein Nachfolge-Institut leitete.