„Wissenschaft kennt aus
sich heraus keine
ethischen Grenzen. Diese
müssen gesellschaftlich
ausgehandelt werden.“
Hans-Walter Schmuhl, Historiker
Die Vernichtungspolitik der Nationalsozialisten bot Wissenschaftler*innen des Instituts neue Möglichkeiten zur Forschung – und sie nutzen diese gezielt. In den Zwangslagern und Vernichtungsstätten sahen sie ein ideales Forschungsfeld: Ohne ethische und juristische Grenzen konnten sie dort Daten sammeln, Experimente an Menschen durchführen und an Körperteile Ermordeter gelangen.
Besonders enge Beziehungen unterhielt das Institut in das Vernichtungslager Auschwitz. Der dort tätige SS-Arzt Josef Mengele hatte zuvor bei Institutsdirektor Otmar von Verschuer promoviert. Von Mengele ließen sich Institutsmitarbeiter*innen ab 1943 Blutproben von Gefangenen und präparierte Körperteile getöteter Menschen schicken.
Die Familie von Otto (1881–1943) und Auguste Mechau (1891–1943) lebte bis 1939 in Hamburg, danach in Oldenburg. Im Nationalsozialismus wurden Sinti*zze zunehmend rassistisch verfolgt. Otto Mechau wurde 1938 zeitweise im Konzentrationslager Sachsenhausen inhaftiert. Nach einem im Oktober 1939 ausgesprochenen „Festsetzungserlass“ durften Rom*nja und Sinti*zze ihren Wohnort nicht mehr verlassen.
Am 8. März 1943 umstellten Polizisten den Wohnsitz der Familie. Mindestens fünf Erwachsene und neun Kinder wurden in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau überstellt. Dort nahmen Ärzte an Angehörigen der Familie Experimente vor, die dem Forschungsprogramm der Institutsmitarbeiterin Karin Magnussen folgten.
Alle nach Auschwitz deportierten Angehörigen der Familie wurden ermordet.
Nur zwei Söhne von Otto und Auguste Mechau überlebten den nationalsozialistischen Völkermord an Rom*nja und Sinti*zze.
Privatarchiv Hugo Mechau/Sammlung Günter Heuzeroth
Das Familienfoto aus dem Jahr 1930 zeigt im Mittelpunkt Otto Mechau, links daneben sitzt seine Frau Auguste (Rahli) Adele Mechau, geb. Bamberger (1891–1943). Diese und weitere Aufnahmen konnte Hugo Mechau (1909–unbekannt, zweiter von rechts) retten. Er überlebte den Nationalsozialismus
Privatarchiv Hugo Mechau/Sammlung Günter Heuzeroth
Auguste (Wella) Laubinger – Tochter von Auguste und Otto Mechau – ist auf dem Foto mit ihren Kindern Fridolin (1941–unbekannt) und Lydia (1935–1944) zu sehen. Es muss kurz vor der Deportation entstanden sein. Die Mutter war wie ihre Tochter Lydia Opfer der Forschungen Magnussens, alle drei wurden in Auschwitz ermordet.
Privatarchiv Hugo Mechau/Sammlung Günter Heuzeroth
Auguste und Otto Mechaus Sohn Balduin Mechau (1925– 1944) wurde ebenfalls Opfer medizinischer Experimente. Auf den 28. Februar 1944 ist Balduin Mechaus Tod in Auschwitz-Birkenau verzeichnet. Unterlagen Magnussens legen nahe, dass sie Präparate seiner verschiedenfarbigen Augen erhielt.
Die promovierte Biologin Karin Magnussen (1908–1997) war bereits 1931 der NSDAP beigetreten. Ihr Leben lang blieb sie eine Rassistin und Antisemitin. 1936 veröffentlichte sie das Schulungsbuch „Rassen- und bevölkerungspolitisches Rüstzeug“.
Als Stipendiatin kam sie 1941 ans Institut, 1943 stieg sie zur Assistentin auf. Magnussen forschte zur Vererbung der Augenfarbe – vor allem an Kaninchen. Sie profitierte von den Verbindungen des Instituts ins Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau und dort durchgeführten Experimenten an Menschen.
Im Entnazifizierungsverfahren wurde sie 1949 als „Mitläuferin“ eingestuft. Ihre wissenschaftliche Karriere konnte Magnussen trotzdem nicht fortsetzen. In Bremen arbeitete sie als Biologielehrerin.
Karin Magnussen schrieb 1943 über „die Bestimmung der Farbe und
Pigmentverteilung der menschlichen Iris“. Ihr Forschungsschwerpunkt
war die Heterochromie – die Verschiedenfarbigkeit von Augen.
Zunächst experimentierte sie an Kaninchen. 1943/44 nutzte sie ihre
Verbindungen nach Auschwitz: Josef Mengele schickte ihr präparierte
heterochrome Augen von ermordeten Angehörigen der Familie Mechau ans
Institut.
Nach dem Tod Karin Magnussens fanden sich in ihren Unterlagen
mehrere sogenannte „Sippentafeln der Familie M“. Diese von
Magnussen gezeichnete Version enthält Namen und Geburtsjahre von
Angehörigen der Familie Mechau. Über drei Generationen trug
Magnussen schematisch die Augenfärbung der Familienangehörigen
ein. Auf diese Weise wollte sie die Vererbung verschiedenfarbiger
Augen nachvollziehen.
Karin Magnussen verfasste 1944 als Ergebnis der Experimente in
Auschwitz einen Aufsatz zur Heterochromie, der nicht mehr existiert.
Um 1980 schrieb sie diesen neuen Text, in welchem sie die
Menschenversuche an Angehörigen der Familie Mechau verschleierte.
Den Text übergab sie an die Max-Planck-Gesellschaft. Diese sollte ihn,
wie sie schrieb, „für die nächste Wissenschaftlergeneration
deponieren“.
Hier wird in Kürze ein Video-Kommentar von Anja Reuss (Historikerin) zu sehen sein